Warum A-List Schauspieler jetzt Doku machen

Es ist noch keine 10 Jahre her, da rümpften Filmregisseure und ernst zu nehmende Schauspieler die Nase. „Reenactment-Doku? Igitt.“ Das hat sich radikal geändert. Erfreulicherweise.

Zugegeben: Die Ressentiments bestanden nicht ganz zu Unrecht – Kostüme wie aus dem Bauerntheater, keine bis hölzerne Dialoge, und „Spielszenen“, die zu kaum mehr dienten, als den Mangel an Archivmaterial zu kaschieren oder genau das zu illustrieren, was der wichtige Herr Sprecher ohnehin gerade antextet. Und das alles gespielt von sogenannten Edelkomparsen. So sah es dann auch aus. Ich darf das sagen, denn ich war dabei.

Das hat sich radikal geändert. In der ARD gab eben erst Ulrich Noethen im Dokudrama “Die Ungewollten – Die Irrfahrt der St. Louis” einen tapferen Kapitän, der 900 überwiegend deutschen Juden zur Flucht vor den Nationalsozialisten verhelfen wollte. Ich selbst durfte gerade ein Universum-History mit Philipp Hochmair als Richard Löwenherz, mit Krista Stadler als seiner Mutter Eleonore von Bethune und Raphael von Bargen als Baldwin von Bethune drehen. In den Besetzungsliste von KollegInnen fanden und finden sich Namen wie Erwin Steinhauer, Christoph Krutzler, Thomas Mraz, Ursula Strauss, Daniela Golpashin, Peter & Paul Matic und und und.

Sag bloß nicht „Reenactment“ dazu
Was ist passiert? Sind wir Regisseure besser geworden? Oder gar die SchauspielerInnen anspruchsloser? Ich glaube nicht. KollegInnen mit Ambitionen hatten vor zehn Jahren ebenso wie heute das Ziel, packende Geschichten aus der Geschichte erzählen. Allein, man hat uns nicht gelassen, wie wir wollten. Da wurde dem Sprecher weit mehr vertraut als der suggestiven Kraft des Bildes. Frontalunterricht mit illustrativen „Reenactments“ eben. Dialog galt als potentieller Umschaltimpuls, gar als „Kunst“, die in der ernsthaften Doku nichts zu suchen hat.

Bessere Bücher
Heute sagt niemand mehr „Reenactment“, wenn es um historische Dokus mit Spielszenen geht. Man sagt jetzt „Spieldoku“, oder noch griffiger „Dokudrama“. Drehbuch, Dramaturgie und Dialog werden endlich auch in der Doku als wesentliche Gestaltungselemente verstanden. Emotion steht gleichwertig neben Information. Heute darf eine Szene mit Dialog schon mal zwei, drei Minuten lang sein. Ein Charakter darf sich über einen ganzen Film entwickeln, darf Persönlichkeit zeigen, darf sich als Figur über die reine Nachstellung von ohnehin Bekanntem erheben. Ich finde das gut. Es zeigt, dass wir – DokuregisseurInnen ebenso wie die verantwortlichen TV-RedakteurInnen – mutiger geworden sind, anspruchsvoller. Und dass wir das endlich auch sein dürfen.

Das Beste zweier Welten
Im Idealfall vereint eine gut gemachte Spieldoku die Dramaturgie eines Spielfilms mit dem Info-Mehrwert einer Doku. Immer mehr SchauspielerInnen mit großen Namen finden das erfreulicherweise attraktiv. Mario Adorf hat sich mit einer Spieldoku über Karl Marx einen Traum erfüllt und sich seine Lebensrolle selbst auf den Leib geschrieben. Und wenn Philipp Hochmair sagt, dass er schon immer mal den Löwenherz samt Schwert und Rüstung spielen wollte, dann mag das der PR des Filmes dienlich sein, ist aber deswegen nicht weniger wahr. Voraussetzung dafür ist ein ansprechendes Drehbuch, das, nur so nebenbei, als Basis von Allem endlich auch im Dokubereich entsprechend honoriert werden muss.

Interessantere Rollen
Historische Dokudramen bieten Rollen, die es in der heimischen TV- und Kinolandschaft nicht oder zu selten gibt. Ein Kostümfilm über Eleonore von Aquitanien, die vielleicht die bemerkenswerteste Frau des Mittelalters? Als Spielfilm in Österreich so gut wie unfinanzierbar. Als Teil einer Spieldoku jedoch machbar. Weshalb Krista Stadler die Eleonore von Aquitanien gespielt hat – und zwar mit großer Begeisterung. Philipp Hochmair als Richard Löwenherz, Sunnyi Melles als Kaiserin Elisabeth, Gerti Drassl als Maria Theresia, Ursula Strauss als Margarethe Ottillinger – es ist zum State of the Art geworden, sich für international vermarktbare History-Dokus die besten Kräfte zu holen, die verfügbar sind. Vor der Kamera ebenso wie dahinter. Das ist gut für das Produkt, aber auch für die Reputation der ganzen Branche. Die wachsende Bereitschaft unserer besten SchauspielerInnen, Rollen in historischen Dokus zu übernehmen hilft mit, den Filmen, die mit Herzblut und Einsatz produziert werden, jene Aufmerksamkeit zu verschaffen, die sie verdienen. Und fettet ganz nebenbei ihre Showreels massiv auf.

Die Genregrenzen verschwimmen
In der jüngsten ORF-Reihe über die Gesichte der Österreichischen Bundesländer haben mit Sabine Derflinger oder Ernst Gossner auch KollegInnen am Regiestuhl Platz genommen, die sonst TV- oder Kinospielfilme machen. Das zeigt: Die Grenzen zwischen den bisher getrennten Welten verschwimmen, die Genres verschmelzen. Allein bei den Budgets hinkt die Doku nach wie vor hinterher. Das zwingt Produktion und Regie einerseits zu kreativen und daher oft innovativen Lösungen, zeigt aber andererseits, dass nach wie vor mit ungleichen Waffen gekämpft wird. Eine Geschichte als packendes Dokudrama zu gestalten, ist eine komplexe und zeitintensive Aufgabe, die angesichts der branchenüblichen Gagen bzw. Produktionsbudgets aber an Selbstausbeutung grenzt – für alle Departments. Die Leidenschaft vieler KollegInnen wiegt das meist – noch – auf.

Darf man von einer Welt träumen, in der das nicht mehr in diesem Ausmaß nötig ist wie jetzt? Man darf. Letztendlich geht es immer um eines: um die Geschichte. Die wollen wir erzählen – so gut wie möglich.